Pilotphase in Deutschland
Von Mai 2017 bis Dezember 2022 unterstützte die Kulturstiftung des Bundes eine Pilotphase für das Modell Neue Auftraggeber nach internationalem Vorbild in Deutschland. Entstanden sind beispielhafte Aufträge in zwei Modellregionen außerhalb der großen Zentren. Sie zeigen, wie wichtig und spannend eine zeitgenössische Kunst ist, die sich bürgerschaftlichen Anliegen stellt und Fragen aus allen Bereichen der Gesellschaft verhandelt. Das Berliner Büro der Gesellschaft der Neuen Auftraggeber koordinierte die Pilotphase und initiierte dafür neue Allianzen, Partnerschaften und Netzwerke – in Deutschland, in Europa und darüber hinaus.
Während der Pilotphase waren insgesamt rund 700 Menschen als Neue Auftraggeber und aktiv Mitwirkende an 17 Handlungsorten direkt beteiligt. Sie arbeiteten dort unterstützt von fünf Mediatorinnen und Mediatoren mit 31 internationalen Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Über 20.000 Personen wurden – auch unter erschwerten Corona-Bedingungen – als Publikum erreicht. Auch im kulturpolitischen Diskurs wurden die Neuen Auftraggeber sichtbar. Unter anderem erhielt das Projekt 2021 den Innovationspreis der Deutschen Kulturpolitischen Gesellschaft.
Begleitend wurden vertiefende Formate zur Auseinandersetzung mit der Kunst im Bürgerauftrag entwickelt, darunter die Gesprächsreihe Was Ihr Wollt! im Grünen Salon der Volksbühne Berlin und die Onlinereihe Im Auftrag – Kunst in Beziehung, in deren Rahmen Aufsätze, Statements und praxisnahe Formate zum Modell Neue Auftraggeber aus Kunstwissenschaft und -vermittlung, Soziologie, Anthropologie, Architektur und Stadtentwicklung, Ökonomie und Mediation präsentiert wurden.
Die Modellregionen
In einer Flächenland- und einer Industrieregion wurden in der Pilotphase mit jedem Auftrag neue Erfahrungen gesammelt, die nun auch anderen Regionen zu Gute kommen. In enger Zusammenarbeit zwischen dem Berliner Büro, den Mediatorinnen und Mediatoren und unseren lokalen Partnerinstitutionen, den Ankerpunkten, wurden nachhaltige Kooperationen aufgebaut, die auch künftig neuen Aufträgen den Weg ebnen sollen. Die Ankerpunkte waren dabei regionale Anlaufstellen und Kommunikationszentren für die Auftragsprozesse.
Flächenlandregion Nord-Ost: Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg
Die Menschen in der Flächenlandregion Nord-Ostdeutschland stehen vor Herausforderungen. In der Vergangenheit sind viele dort lebende Menschen aus Städten und dörflichen Gemeinschaften abgewandert. Gleichzeitig entwickelt sich Wohlstand in einzelnen Zentren. Die erste Abwanderungswelle hat nicht nur die Wirtschaft, Verwaltungsstrukturen und Institutionen verändert. Betriebsschließungen und Schrumpfungen haben auch die kulturelle Identität stark beeinflusst, die seitdem durch Umsiedlungen und Neuzuzüge wiederum neuen Einflüssen unterworfen ist. Auffällig wird dieser Identitätswandel immer dann, wenn sich Gruppen politisch radikalisieren. Die Prozesse im Modell Neue Auftraggeber setzten schon bei unterschwelligen Transformationsprozessen an, um dabei zu helfen, Zukunftsvisionen abseits von Klischees konstruktiv zu verhandeln. Kultur kann hier an verhärteten Fronten vorbei zeigen, wie sich das lokale Gemeinwesen weiterentwickeln und von seinen Mitgliedern gestaltet werden kann.
INDUSTRIEREGION WEST: NORDRHEIN-WESTFALEN / RUHRGEBIET
Das Ruhrgebiet ist zum Sinnbild eines nicht endenden wirtschaftlichen Strukturwandels geworden. Der industrielle Rückbau und der Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft ist aber nicht das einzige Thema der Region, die sich besonders intensiv mit der eigenen Geschichte und Kultur auseinandergesetzt hat. Auch die Übergangszonen zwischen Stadt und Land, der Umbau urbaner Strukturen, Migration und Bildung sind wichtige Fragen an Rhein und Ruhr, wo es nicht nur um Probleme wie die Überschuldung der Kommunen und soziale Spaltungstendenzen geht. Auch neue solidarische Strukturen und Zukunftsvisionen prägen das Selbstverständnis. Mit dem Rheinland zählt eine zweite Region zwischen Urbanität und ländlichem Raum zur westlichen Modellregion der Neuen Auftraggeber. An der Grenze zu Belgien und den Niederlanden entwickeln sich hier in einem Transformationsraum mit ganz eigener kultureller Prägung neue Strategien im Umgang mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wandel.
Die Ankerpunkte
Schloss Bröllin e.V.
Schloss Bröllin in Mecklenburg-Vorpommern liegt in der deutsch-polnischen Grenzregion. 1992 wurde der Schloss Bröllin e.V. gegründet und ist seitdem ein internationales Produktionsforum für experimentelles Theater. Mit einem Artist-in-Residence-Programm, Workshops, Festivals, regionalen Ausstellungen und Symposien setzt der Verein sich aktiv für die Kunstproduktion, die regionale Vernetzung, die kulturelle Jugendarbeit, das Mitwirken in der nationalen und internationalen Kulturszene ein. Als Ankerpunkt der Pilotphase konnte Schloss Bröllin an diese Erfahrungen anknüpfen und dabei seinen methodischen und geografischen Handlungsradius erweitern und die Aufträge in Vorpommern und in der polnisch-deutschen Grenzregion begleiten.
Kunstverein Schwerin
Der Kunstverein Schwerin wurde 2002 gegründet, um ein Forum für zeitgenössische bildende Kunst zu etablieren. Seither wurden diverse Ausstellungen und Projekte realisiert, zunächst an unterschiedlichen Orten wie leerstehenden Ladenlokalen oder dem Schweriner Dom. Heute ist der Kunstverein in den ehemaligen Industriehallen des E-Werks am Pfaffenteich zu Hause. Andreas Wegner hat als künstlerischer Leiter und Geschäftsführer das ambitionierte Profil des Vereins weiter ausgebaut. Als Ankerpunkt der Pilotphase nutzte der Kunstverein die Chance, sich für Menschen im gesamten Bundesland zu öffnen. Anliegen der hier angesiedelten Pilotprojekte war es, Modellstrukturen zu fördern, die ein breiteres Verständnis für kulturelle Produktion und Identität in den Regionen wecken sollten.
Museum Abteiberg
Das Museum Abteiberg in Mönchengladbach verfügt über eine herausragende Sammlung und Museumsarchitektur. Darüber hinaus hat die Institution einen langfristigen Prozess angestoßen, in dem sie sich neu erfindet und sich für die Menschen der Stadt öffnen will. Museumsdirektorin Susanne Titz führt das Haus seit 2004. Sie betont den besonderen Stellenwert des Museums, das inmitten des wirtschaftlichen und demografischen Strukturwandels mit vielen Projekten in die Stadt hinein wirkt. Als Ankerpunkt der Pilotphase konnte das Haus neue Modelle der Bürgerpartizipation anregen und umsetzen. 2016 zeichnete der Internationale Kunstkritikerverband AICA das Museum Abteiberg als „Museum des Jahres” aus.
BKV Potsdam e.V.
Der Brandenburgische Kunstverein Potsdam (BKV) hat seinen Sitz seit 2011 im Bürgergarten Freundschaftsinsel. Dieser Ort ist ein Schmelztiegel aller denkbaren Besuchergruppen: Von der Anwohnerin aus der Altenresidenz bis zum außereuropäischen Touristen reicht das Publikum des BKV. Der langjährige künstlerische Leiter Gerrit Gohlke versteht den Verein auf der Freundschaftsinsel als Modellprojekt für den direkten Dialog mit dem Publikum und hat dessen Arbeit auf die ländlichen Regionen Brandenburgs ausgeweitet. Als Partner der Neuen Auftraggeber begleitet der BKV bereits seit 2010 Prozesse von Auftraggebergruppen brandenburgischer Regionen mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Damit hat der Verein Brücken zwischen dem Kunstbetrieb und dem regionalen Umland geschlagen.