Neue Auftraggeber: Ästhetische Infrastruktur als Prototyp sozialer Praxis

Shannon Jackson

Shannon Jackson ist Professorin für Theater, Tanz und Performance Studies an der University of California, Berkeley und spezialisiert auf die Bereiche socially-enganged art, experimentelle Performance sowie Video- und Medienkunst. In ihrer Arbeit untersucht sie die politischen Dimensionen von Kunst anhand ihrer Themen, Medien, Praktiken und ihren materiellen Strukturen. Im folgenden Essay setzt sie das Protokoll der Neuen Auftraggeber ins Verhältnis zu unterschiedlichen Debatten im Feld Sozialer Praktiken.

Jackson hat international unterrichtet, u. a. in New York, London, Venedig, Paris, Berlin, Shanghai, Singapur, Hong Kong und Kapstadt. Sie hat zahlreiche Bücher publiziert, darunter: Social Works: Performing Art, Supporting Publics; Public Servants: Art and the Common Good und Valuing a Labor in the Arts, eine Sonderausgabe von Art Practical.

„Ein Bürger wird, ob er allein oder gemeinsam mit anderen handelt, zum Auftraggeber, sobald er in sich erkennt, was für den zeitgenössischen Künstler Grundlage schöpferischen Arbeitens ist: denselben Wunsch, sich frei auszudrücken, denselben Entschluss, sich dem Normiertwerden zu widersetzen, dasselbe Bedürfnis, sich eine andere Vorstellung von sich selbst zu machen und Wege zu bahnen, wo noch keine sind.“ 1

Das ist eine der vielen programmatischen Verkündungen von François Hers, der sich als Gründer und Katalysator des Projekts Neue Auftraggeber betrachtet. Ob man sein Handbuch-Manifest Le Protocol wieder ausgräbt oder den später veröffentlichten Letter to a Friend about New Patrons – hier wie dort plädiert Hers für eine lebendige gesellschaftliche Ausübung der Künste und, verbunden damit, für eine Philosophie und politische Systeme, die künstlerische und politische Energien in andere Richtungen lenken. 2 Das von Hers verfasste „Protokoll der Neuen Auftraggeber“ gründet in dem Glauben an die gegenseitige, kreisläufige Bestärkung von Kunst und Demokratie oder zwischen kulturellem und politischem Handeln. Es wurde mehrfach überarbeitet und ergänzt, um mit seiner eigenen Wirkmächtigkeit schrittzuhalten. 3 „Die Bürger*innen sind immer noch die großen Abwesenden im Kunstgeschehen“, heißt es anderswo – für die Künste ergibt sich daraus, diese Bürger*innen wieder mit offenen Armen zu empfangen, insbesondere weil eine individualisierte Auffassung von künstlerischer Autonomie (zusammen mit den tückischen Vereinzelungstendenzen des Kunstmarktes) die Kunst aus ihren Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft gelöst hat. Umgekehrt findet eine wohlwollende Aufnahme auch aufseiten demokratisch gesinnter Bürger statt, die in der Kunst eine Sphäre erkennen, in der sie ihre Grundbedürfnisse „ausleben, prüfen und einlösen“ sowie „anders geartete Beziehungen zu sich selbst und zu anderen, zur Zeit und zur Umwelt" entwickeln können. Sie fassen daraufhin den Entschluss, die Künste in den Mittelpunkt demokratischer Abläufe und Verfahren zu stellen. 4 Hers’ eigene Position auf diesem weiten Terrain ist so anregend wie zwiespältig. Einerseits räumt er der Gemeinschaft Priorität ein, andererseits beansprucht er eine Art Autorenschaft, etwa wenn er geltend macht, seine „utopische Position“ habe „hunderte Kunstwerke ins Leben gerufen“. 5 Hin- und hergerissen zwischen einem Protokoll des kollektiven Vorgehens und einem der Kunstwelt, das Werke einzelner Genies feiert (und verkauft), war Hers konsequent und inkonsequent zugleich. In dieser Hinsicht nimmt seine Haltung schon die Wirrungen und Verheißungen vorweg, mit denen in der Folge alle Arten von Mitwirkenden bei den Neuen Auftraggebern lernen müssen umzugehen – ob Mediator*innen, Künstler*innen, Unterstützer*innen oder eigeninitiative Auftraggeber. Wie mir scheint, findet sich diese komplizierte Gemengelage – wie auch der utopische Anspruch – bei mehreren ähnlich gearteten Bewegungen und Kunstströmungen in den ersten zwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts wieder. Im Folgenden stelle ich einige Überlegungen zu den Protokollen in „The Protocol“ an und vergleiche diese mit denen anderer Mitstreiter*innen und anderer Ansätze im Bereich der sozialen Praxis, um zu zeigen, dass die Neuen Auftraggeber zugleich ein Symptom ihrer Zeit und Urheber eines katalytischen Modells, mithin der Prototyp einer sozialen Praxis sind, deren Potenzial noch längst nicht gänzlich verwirklicht ist.

Die Biografie von François Hers weist signifikante Übereinstimmung mit denen anderer Protagonisten auf dem internationalen Gebiet der sozial engagierten Kunst auf, aber auch einige Abweichungen davon. Hers wuchs in den Fünfzigerjahren als Sohn eines einflussreichen Diplomaten heran. Er begeisterte sich früh für DADA und andere erweiterte Auffassungen von Kunst. Er begann eine Laufbahn als Fotograf, verfing sich jedoch bald in den Strickmustern der Moderne, was künstlerische Autonomie und berufliche Legitimierung anging. Hers sträubte sich gegen ein Modell des künstlerischen Erfolgs, in dem der Künstler „für immer der einsame Held seiner eigenen Geschichte bleiben muss“.6 Die Kehrtwende, aus der die Neuen Auftraggeber entstanden sind, ging also von einem Künstler aus, der für sich selbst einen anderen Stellenwert in einem sozialen Feld suchte, der anders beauftragt und kuratiert werden wollte, anders in die Auseinandersetzung mit Rezipient*innen, Betrachter*innen und Bürger*innen eintreten wollte, die er mit seiner Arbeit anzusprechen hoffte. Auch andere fassten um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert anscheinend ganz ähnliche Gedanken. Einer der bekanntesten unter ihnen war Hers Landsmann Nicolas Bourriaud, der damit begann, Werke zu kuratieren, bei denen Künstler*innen in Thesen und Installationen das „gesellschaftliche Leben“ als vorrangiges künstlerisches Material beanspruchten. Bourriaud gab dieser Richtung den Namen „esthétique relationelle“ und löste damit eine Reihe von Debatten aus, begeisterte und abwertende, die die künstlerische Integrität und politische Reaktionsfähigkeit der relationalen Ästhetik untersuchten. 7 Die Neuen Auftraggeber Seite an Seite mit der relationalen Ästhetik zu betrachten, ist eine Vergleichsübung, bei der auch die Unterschiede deutlich werden. So besticht Hers‘ Vorgehen im Unterschied zur relationalen Ästhetik als eines, das die Bedürfnisse, Krisen, Kämpfe, Träume und Bestrebungen „der Menschen“ allem anderen voranstellt. Der gemeinsame Einsatz für ein Kunstwerk begründet bei ihm eine völlig andere Auffassung von „Eigentum“ daran.

Etliche Wegbegleiter*innen und Kritiker*innen versuchten Bestandsaufnahmen der um sich greifenden Kunst als soziale Praxis, und sie entwickelten, verwarfen und überarbeiteten im Zuge dessen einen immer umfangreicheren Begriffsapparat zu ihrer Beschreibung: Community Art, Politische Kunst, Aktivistische Kunst, Institutionskritik, sozial engagierte Kunst, New Genre Social Art, Soziale Praxis. Hers selbst war sich dieser Debatten und Definitionsansätze vielleicht nicht so sehr bewusst – und wohl auch nicht so sehr daran interessiert. Das Verfahren der Neuen Auftraggeber entwickelte sich still und heimlich weiter und zehrte dabei vom Eifer und Vokabular dieser Szene. Nicht zuletzt versammelte deren erste öffentliche, von der Fondation de France geförderte Präsentation zahlreiche Künstler*innen und Protagonist*innen verschiedener Strömungen zusammen mit konzeptkünstlerischen Vorläufer*innen wie Vito Acconci, Jean-Luc Brisson, Dominique Gonzalez-Förster, Christian Boltanski, Daniel Buren, Liam Gillick, Lucy Orta, Andy Goldsworthy oder Bruno Serralongue. Seither haben sich die Neuen Auftraggeber international in Europa verbreitet. Neben jüngeren, aufkommenden Künstler*innen nehmen auch bekannte – Superflex, Ugo Rondinone, Martha Rosler, Ulla von Brandenburg, um nur einige zu nennen – weiterhin Aufträge von Neuen Auftraggebern an. Im Zuge dessen hat sich die wirtschaftliche Basis der Neuen Auftraggeber verbreitert, und die regionalen Kooperationen gestalten sich anders als zuvor. Während das Protokoll der Neuen Auftraggeber im Großen und Ganzen symptomatisch für ästhetische Expansionen in die gesellschaftliche Sphäre ist, zeigen sich doch einige Besonderheiten. So interessieren sich Neue Auftraggeber über die formalen Anliegen von Bourriauds relationaler Ästhetik hinaus anhaltender und umfassender für Verwaltung und Politik. Sie belassen es nicht bei metaphorischen oder in erster Linie formalen Erkundungen gesellschaftlicher Strukturen, sondern schlagen sich durch das Dickicht sozialer Systeme und Probleme, etwa solcher des Erziehungs- und Wohnungswesens, des Asylrechts, des Alterns und der Arbeitslosigkeit. Und am Ende basiert ihr umtriebiges Arbeiten gegenüber wahllos wirkendem Kuratieren von Kunst im öffentlichen Raum ganz konkret auf einem Protokoll, d. h. auf dem laufend weiterentwickelten Konzept eines gegenläufigen und leistungsfähigen Verfahrens zur Herstellung von Kunst inmitten der neoliberalen Zerrüttungen und ausgehend von den utopischen Möglichkeiten der real existierenden Demokratie.

Beginnen wir mit der Entschlüsselung des Entstehungsprozesses – am besten gleich mit dem gefeierten Initiationsmoment jedes Projekts der Neuen Auftraggeber, nämlich mit ihnen selbst, und mit dem Stellenwert dieser commanditaires, Initiator*innen oder Bürger-Auftraggeber*innen, deren Interessen, Wertvorstellungen und Bedürfnisse ein Projekt auf den Weg bringen. Bereits dieses impulsgebende Forum markiert einen grundsätzlichen Unterschied zum traditionellen Hergang bei der Entstehung eines Kunstwerks wie auch zur zeitgenössischen Kunstproduktion, wo in beiden Fällen das Werk im Hirn (und Herz) von Künstler*innen seinen Ausgang nimmt und deren Wunsch entspringt, etwas Eigenes auf die Welt zu bringen. Bei den Neuen Auftraggebern kommt die Welt zuerst. Sie setzt sich aus den Überlegungen und Gedankenassoziationen von Bürger*innen zusammen, die meinen, dass ein kollektiver künstlerischer Prozess in ihrer Welt katalytische Wirkung haben, dass er die Welt mit Blick auf eine andere Zukunft umgestalten könnte. Wie François Hers sagt, entspringt Kunst schon viel zu lange einer unterstellten inneren Notwendigkeit der Künstler*innen. Selbst Künstler, wollte er diesen Druck irgendwann nicht mehr, sondern stattdessen von den inneren Notwendigkeiten anderer Menschen erfahren. Er fragte sich, warum die Bedürfnisse der Künstler*innen für glaubwürdiger gehalten wurden als die tatsächlichen Nöte und Ansprüche „gewöhnlicher“ Menschen. 8 Nun könnte man einwenden, dass sich schon viele Künstler*innen vor ihm in diesem Sinn an andere rückgebunden und gemeinschaftliches Vorgehen in den Vordergrund gestellt haben. Auch das Modell einer dialogischen Kunst von Grant Kester – angeregt unter anderem von Gruppen wie Wochenklausur (Österreich), Ala Plastica (Argentinien), Superflex (Dänemark), Huit Facettes (Senegal) oder Ne Pas Plier (Frankreich) – entspricht weitgehend der von den Neuen Auftraggebern geforderten Neuausrichtung und Neubestimmung der Künstler*innenfigur. Grant Kester schreibt: „Wir betrachten den Künstler in der Regel als eine Art mustergültigen Bourgeois, der seinem Willen durch heldenhafte Formwandlung der Natur oder Assimilation kultureller Differenz Geltung verschafft – als ein Subjekt, das nach Alchimistenmanier Ursprüngliches, Heruntergekommenes und angestammten Wildwuchs in große Kunst verwandelt. Durchgängig bleibt die radikal autonome Figur des einzelnen Künstlers als Sitz von Ausdruck und Bedeutung. Eine dialogische Ästhetik vermittelt eine ganz andere Vorstellung vom Künstler, nämlich eine, die sich in Begriffen der Offenheit, des Zuhörens und der Bereitschaft zur Akzeptanz von Abhängigkeit und intersubjektiver Verletzlichkeit bestimmt. Die Bedeutungsstiftung des Werks geschieht hier in den Lücken zwischen Künstler und Mitwirkendem.“ 9 Ob unter dem Banner der Community Art oder der Sozialen Praxis, ob mit Foren wie Project Row Houses in Houston oder Blade of Grass in New York – zahlreiche Künstler*innen mit Gemeinsinn haben seither gelernt, ihre eigene Vision oder ihre im voraus bestimmten Ziele den Bedürfnissen einer Gemeinschaft unterzuordnen. Rick Lowe begann Project Row Houses mindestens zum Teil, indem er das Projekt sich selbst in Gang bringen ließ und die Gespräche unter den Leuten vor Ort über die Wohnhäuser in einem benachteiligten Viertel von Houston nicht eigentlich anleitete, sondern ermutigte und begleitete. Andererseits war es dann doch Rick Lowe selbst, der ein MacArthur „Genius Grant“ dafür gewann, was ein schönes Beispiel für das Ineinandergreifen von gemeinschaftlichem Handeln und professionellem Vorgehen einzelner ist.

Die Art und Weise dieses Ineinandergreifens wird in zahlreichen Projekten immer aufs Neue durchgespielt und ausgehandelt – so auch bei Jeanne Van Heeswijk, die den Leonore Annenberg Prize for Art and Social Change und etliche andere Preise gewonnen hat. Heeswijk prägte den Begriff „Städtisches Kuratieren“, um einen Prozess zu beschreiben, bei dem sie sich selbst als Bürgerin auf eine Nachbarschaft einlässt und die Beteiligten in alle Einzelheiten ihrer Projekte von den ersten Entwürfen bis zur Ausstellung involviert. Auch Heeswijks Vorgehen weist Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Neuen Auftraggebern auf. Es wurde in einer Reihe von Projekten ausgearbeitet und verfeinert, die vor allem mit der Neudefinition von Märkten und öffentlichen Plätzen in Rotterdam (z. B. Freehouse Zuid), Amsterdam (Face Your World) oder inmitten des Autobahnknotens Kaiserberg bei Duisburg (The Resistance of Small Happiness) zu tun hatten. Es setzt sich in Heeswijks mal bildhaften, mal eher plastischen oder diskursiven Formaten der dreizehnteiligen Serie „Public Faculty“ fort. Einerseits hat Heeswijk im Zuge dieser Arbeit die Fähigkeit des Zuhören und der Partizipation sowie eine Art Selbstfügung in die Dynamik öffentlicher Kunstproduktion kultiviert. Andererseits kann dieser Akt der Selbstfügung auch als einer erscheinen, der wesentlich von ihr selbst ausgeht und immer noch ihrem eigenen Willen entspringt, und nicht einem Prozess wie dem der Neuen Auftraggeber, in dem keinerlei Primat der Künstler*innen vorgesehen ist. Woran man nun die Frage knüpfen könnte, ob und inwiefern das Modell der Neuen Auftraggeber vielleicht nicht so sehr neu, aber doch einzigartig ist. Oder ob es nur einen Typ sozial engagierter Kunst festschreibt, der so schon in vielen Nischen der Welt am existiert. Vielleicht zeichnet sich gerade in der Entscheidung, einem Protokoll zu folgen, die Rollen zu benennen, der Unterschied aus. Dann entspricht es mindestens in dieser Hinsicht dem Anliegen von Blade of Grass, der ersten ausschließlich sozial engagierter Kunst gewidmeten Stiftung in den USA mit dem Auftrag, „innovative Richtungsgeber gesellschaftlichen Wandels“ unter den Künstler*innen mit Ressourcen auszustatten. 10 Während aber ein Großteil der sozial orientierten Kunst pauschal auf „die Gemeinschaft“ abzielt, haben deren Angehörige bei Projekten der Neuen Auftraggeber einen Namen und verfügen über Handlungsmacht. Und während viele Community Art-Initiativen bei der Verteilung ihrer Ressourcen noch immer vorrangig die Bedürfnisse gemeinschaftlich orientierter Künstler*innen bedienen, stellen die Neuen Auftraggeber ihre von vornherein in den Dienst der Bürgerinnen und Bürger und deren Bedürfnisse. Eine Gruppe von Neuen Auftraggebern wartet nicht darauf, dass sozial engagierte Künstler ihr zuhören, wie das in der wohlmeinenden Community Art üblich ist. Sie versammelt sich und verschafft sich Gehör, lange bevor wohlmeinende Künstler*innen auf den Plan treten.

Wenden wir uns einer weiteren Besonderheit der Neuen Auftraggeber zu: den Mediator*innen. In ihnen begegnen wir den Brückenbauer*innen zwischen Neuen Auftraggebern und der Kunst beziehungsweise zwischen einer gestärkten „Gemeinschaft“ und den Verfahren und Infrastrukturen der Kunst, die man braucht, um ein Projekt zu verwirklichen. Einmal mehr haben wir einen neuen Namen für etwas, das uns als vertraute Gepflogenheit erscheinen könnte, und das dennoch einige ungewöhnliche Merkmale aufweist. Sind Mediator*innen eine Art Kurator*innen? Also Personen, die den Rahmen eines Projekts abstecken, es in einen Zusammenhang stellen, mit dem Ausstellungsteam Kontakt halten und über den gesamten Verlauf im Gespräch mit den Künstler*innen bleiben? Ja und nein, d .h. ja nur insoweit, als auch im Bereich der sozial engagierten Kunst die Rolle von Kurator*innen eine Neubestimmung erfahren hat. In einer Handvoll Projekten und Institutionen der Welt – etwa im kalifornischen Oakland Museum und auf den fortschrittlich gesinnten Biennalen von Liverpool oder Mercosul – sind Kurator*innen teilweise zu Initiator*innen geworden und haben den Anstoß zur Bildung von „Gemeinschaften“ gegeben, d.h. Gesprächsrunden gegründet und Fühlung mit den Menschen vor Ort aufgenommen, noch bevor irgendeine kuratorische Vision feststand. Anstatt eine Ausstellung zu „kuratieren“ und dann eine Vermittlungsabteilung oder Programmkoordination ein Publikum dafür finden zu lassen, sucht das sozial engagierte Kuratieren zuerst sein Publikum. Schon beginnen die ersten Institutionen, ihre Vermittlungsabteilungen mit kuratorischen Befugnissen auszustatten, also kuratorische Kompetenz anders zu definieren und umzuverteilen. Das widerspricht allen Traditionen des Kuratierens und bringt die vorausgesetzte Hierarchie zwischen diesem und dem Publikum, das es erreichen will, ins Wanken. Erneut stellt sich die Frage: Ist die Figur der Mediator*innen bei den Neuen Auftraggebern wirklich „neu“ oder nur die Kodifizierung einer Funktion, die sich auch in anderen Winkeln der Kunstwelt ausbildet? Und wieder lautet die Antwort: Ja und nein. Ja, die Rolle der Mediator*innen benennt etwas, das man so tendenziell auch anderswo in der jüngsten Geschichte der sozial engagierten Kunst findet. So beschreibt Suzanne Lacy die Umstände, unter denen in den Vereinigten Staaten die New Genre Public Art aufkommen konnte – ein Modell, das künstlerisches Arbeiten in verschiedenen Medien und Traditionen, also „neue Genrekunst“, mit dem Versuch verbindet, aus der Kunst im öffentlichen Raum eine wirklich öffentlich engagierte Praxis der „sozialen Intervention“ zu machen. Interessanterweise entstand mit zunehmender Verbreitung dieses Verfahrens, in dem enge Bezüge zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Vordergrund gerieten, auch ein „neues Genre“ einschlägiger Expert*innen. Hier Lacys Fazit dazu:

„Über die gesamten Siebzigerjahre stritten Verwaltungsbeamte und Kunstaktivisten dafür, einen bestimmten Prozentsatz öffentlicher Mittel für die Kunst zu reservieren. Im Verein mit Stipendien des National Endowment for the Arts und privaten Mitteln förderte dies die Entstehung von Kunst im öffentlichen Raum. Wegen der Größenordnung der Aufträge bot sich manchen Künstler*innen hier auch eine lohnende Alternative zum Galeriesystem. Allmählich wurde das Publikum anspruchsvoller und verlangte nach Erklärungen der Kunst, und so entstand ein neuer Typ von Kunstbeamten mit der Aufgabe, Hürden zwischen Künstler*innen, die in den Strategien der Eigenständigkeit und Innovation der Moderne geschult waren, und verschiedenen Vertreter*innen der öffentlichen Hand aus dem Weg zu räumen. Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten, Forschung und Befragungen von Bürgerinitiativen oder verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurden zur Gewohnheit, und man setzte Künstler*innen, Architekt*innen, Designer*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen in Arbeitsgruppen an einen Tisch. Außer unter ungewöhnlichen Umständen kam das eigentliche Potenzial gemeinsamer kreativer Arbeit in solchen Gruppen jedoch nur selten zur Geltung.“ 11

Einmal mehr begegnen uns Symptome und Tendenzen der Entfremdung auf einem umfassenderen Gebiet der sozial engagierten Kunst – auch und insbesondere dort, wo „ein neuer Typ von Kunstbeamten“ bereits eine Funktion erfüllte, die ungefähr den Mediator*innen bei Projekten der Neuen Auftraggeber entspricht. Im Vergleich dazu fällt auf, dass in den Aufgabenbereich der Mediator*innen mitunter noch andere Funktionen, Erfahrungshintergründe, Fertigkeiten und Erwartungen fallen. Setzen wir an die Stelle der Kurator*innen (oder der Kunstbeamten) Mediator*innen, so erweitern wir zugleich die kuratorische Funktion um eine Reihe anderer Fertigkeiten. Die Figur der Mediator*innen ist eine Art Botschafterin des Projekts und vermittelt zwischen vielen Kräften und Beteiligten. Erwartet wird, dass die diplomatische Funktion während des gesamten Ablaufs im Mittelpunkt steht und nicht an den Rand rückt. Die Mediator*innen nutzen Verfahren, die an die partizipatorische Gestaltung in der Architektur oder an die Inspizienten im Theater erinnern, und wie wir noch sehen werden, müssen Mediator*innen der Neuen Auftraggeber auch alle Arten des Kunstschaffens mittragen, nicht nur solche der objektbasierten Installation aus der Welt der bildenden Kunst. Zugleich bleibt aber die ästhetische Funktion in den Projektbeschreibungen der Neuen Auftraggeber bestimmend für alle Bemühungen der Mediator*innen, Brücken zwischen Neuen Auftraggebern und den ästhetischen Neigungen und formalen Strategien von Künstlerinnen und Künstlern zu bauen. Wie François Hers in „The Protocol“ schreibt, bringen die Mediator*innen „ihre Verantwortung als Expert*innen ins Spiel“. 12 Auch hierin treten die Neuen Auftraggeber in einen erhellenden Bezug zu einem inzwischen klassischen Dilemma der Sozialen Praxis, das sie fortwährend im Blick behalten: In der langen Geschichte der „Engagierten Kunst“ von Adorno bis heute wurde unablässig über die Instrumentalisierung – mithin Neutralisierung – der Kunst diskutiert, sobald diese von gesellschaftlichen Bekenntnissen vereinnahmt wird. Nun sind es zwar „soziale“ Anliegen, von denen künstlerische Projekte der Neuen Auftraggeber ausgehen. Doch die Mediator*innen haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Kunst auch Kunst bleibt, dass ästhetische Strategien und Besonderheiten die eigentliche und einzige Arbeit tun, die Kunst in und mit der Welt vollbringen kann. In der Verbindung sorgen diese beiden Prozesse für eine Orientierung am System und an der Kunst zugleich. Sie ergeben ein Modell, in dem die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Infrastruktur immer noch ästhetischen Charakter annehmen kann. 13

Interessant an der Rolle der Mediator*innen im Auswahlprozess ist auch, wie sie sich zur relativen Autonomie oder Heteronomie traditioneller Selbstverständnisse und Abläufe in der Kunst verhält. Einerseits ist die heteronome, d. h. Künstler*innen fremdbestimmende Aufwertung der Gemeinschaft und des Engagements in ihr unübersehbar. Andererseits laden die Mediator*innen nicht zum Einreichen von Projektvorschlägen ein und delegieren ihre Entscheidung auch nicht an ein Gremium, sondern wahren ihre Autonomie als Expert*innen. Auch den Künstler*innen wird, einmal ausgewählt und verpflichtet, das Privileg und die Verantwortung einer gewissen ästhetischen Autonomie zugestanden. Sie erhalten den Auftrag, ihre Erfahrungen und Formen ins Werk zu setzen, dies jedoch in dem Bewusstsein, dass die Mediator*innen diese Formen den Projektbeteiligten oder Interessenten übersetzen werden. Auch darin thematisieren die Parameter des Kunstschaffens bei den Neuen Auftraggebern das genannte Dilemma der Sozialen Praxis, bieten allerdings auch eine strukturelle Lösung für den Umgang damit. Der gegenläufige, demokratisierte Prozess der Beauftragung legt wenig Wert auf die privatisierte, in der künstlerischen Anspruchshaltung und Selbstlegitimation zum Ausdruck kommende Autonomie. Zugleich geschieht die Mobilisierung der Ästhetik in der Sphäre von Gesellschaft und Politik mit Augenmaß. Die Gefahr der Fremdbestimmung und Instrumentalisierung der Kunst ist durch das Bestehen auf ästhetischer Sachkunde und Integrität der ästhetischen Form einigermaßen gebannt. Das klingt beinahe nach der Eier legenden Wollmilchsau. Und tatsächlich lesen sich die Beschreibungen, Definitionen, Überarbeitungen und Neufassungen auf der Internetseite der Neuen Auftraggeber wie der Wunsch, das Beste aus beiden Welten zu verbinden und zu erhalten. Um die Fassung der Aufgabenverteilungen wurde bei den Neuen Auftraggebern erkennbar heftig gerungen. Die kleinteilige Prosa der diesbezüglichen Bestimmungen lässt als Unterfütterung eine Menge Erfahrungen, Erfolge, Fehlschläge und laufende Anpassungen erahnen. Unterdessen streben alle Beteiligten ausdrücklich oder implizit nach bestmöglicher Vermittlung der Dialektik zwischen Autonomie und Heteronomie. Sicher lassen Aussagen zu „geringeren Honoraren“ oder zur „Emanzipation“ des Kunstwerks erkennen, dass man dabei die lukrativere bildende Kunst in Galerien eher im Auge hatte als die meist weniger lohnende Arbeit auf Gebieten wie Tanz, Theater, Musik, Landschaftsarchitektur, Architektur oder Experimentalfilm. Insgesamt stimmt die Vorstellung von Kunst ziemlich genau mit dem überein, was John Roberts als „zweiten Markt“ sozial engagierter – aber immer noch avantgardistisch anspruchsvoller – Kunst beschrieben hat: eine Kunst, die kaum mit den Institutionen des traditionellen Kunstmarktes, also mit Museen, Auktionshäusern und kommerziellen Galerien in Berührung kommt. 14 Hier wie anderswo stuft sich dieser „Zweitmarkt“ selbst nach seiner relativen Distanz zu einem wie immer gearteten „Erstmarkt“ ein, d. h. zu einer vor allem in Galerien gehandelten bildenden Kunst und einer Szene, der unter anderem darstellende Künstler*innen oder Gestalter*innen von vornherein nie angehörten.

Nach solchen Verfahrensregeln treten nun der Künstler, die Künstlerin oder die Künstlergruppe in den Prozess ein – eine verspätete Ankunft im Vergleich zum traditionellen Modell in der Kunst, bei dem alles mit den Willensakten und Intentionen des Kunstgenies beginnt. Stattdessen setzt die „Integrität“ – und die „raison d‘être“ (wie auf der Website der Nouveaux Commanditaires und hier weiter oben erörtert) – bei den Zielen der Auftraggeber selbst an, wobei diese von den Mediator*innen und ihren Vorschlägen von geeigneten Künstler*innen für das Projekt bereits mit geprägt sind. Bemerkenswert ist, dass der Auswahlprozess dem üblichen Modell in der Kunstwelt nachgerät, von ihm aber in wichtigen Punkten abweicht. Eine solche Abweichung besteht in der Offenheit für die Form. Je nach Art und Wesen des Projekts können durchaus Künstler*innen aus anderen Bereichen als der bildenden Kunst ausgewählt werden, etwa aus „Literatur, Musik, Theater, Tanz, Architektur“. So wurde etwa für Temple of Refuge ein Comiczeichner engagiert. 15 Eine Voraussetzung für derartige Offenheit ist, dass eine Mediatorin, ein Mediator sich in den meisten Künsten auskennt und über Kontakte auf verschiedenen Gebieten verfügt. Er oder sie könnte unter Umständen sogar ein bestimmtes Format oder eine künstlerische Disziplin vorschlagen und in der Lage sein, die entsprechende Infrastruktur zur Ausarbeitung herbeizuschaffen. Die Frage, ob Neue Auftraggeber sich allzu leicht auf ein Medium festlegen oder in formaler Hinsicht offen für unterschiedliche Lösungen bleiben – ob sie vielleicht verfrüht die Form eines Parks festlegen oder einen Comic vorwegfantasieren – beruht weitgehend auf falschen Voraussetzungen.

Umso interessanter ist es zu beobachten, was passiert, wenn wir uns sozial engagierter Kunst öffnen, die sich in einen Bezug zu anderen Traditionen als denen der bildenden Kunst stellt, d.h. zu Kunstformen wie Architektur, Literatur oder Theater. Ein Beispiel dafür ist die Dokumentartheater- (und Neue Auftraggeber-) Gruppe Rimini Protokoll. Bezugssystem von Rimini Protokoll ist das Theater, nicht die Welt der bildenden Kunst und des Galeriesystems. Die „Amateur*innen“ sind hier „Expert*innen des Alltags“. Sie bringen Kenntnisse zur Geltung, die den Hintergrund des Kunstwerks bilden, obwohl sie zugleich dessen Inhalt sind. Die Expert*innen des Alltags sind Motor und Gegenstand des Kunstwerks. Diese umgekehrte Dramaturgie von Rimini Protokoll ist Ausgangspunkt für Projekte wie die ortsspezifische Serie von Abenden unter dem Titel „Cargo Sofia“ (2006), die global-lokalen Performances „Call Cutta“ (2004), die „100 Prozent“-Inszenierungen für zahlreiche Städte und die Inszenierungen von Philosophie- und Literaturklassikern wie Das Kapital und Wallenstein. Rimini Protokoll-Mitglied Daniel Wetzel erläutert: „Kann man mit Dramen anders umgehen, als sie auf der Bühne in Fleisch und Blut aufzuführen? Kann man das Stück nicht auch beim Kragen packen? Nämlich ausgehend von der Tatsache, dass wir uns mit einer Person im Stück identifizieren und uns auf ihre Geschichte einlassen wollen, weil sie von etwas erzählt, das auch uns im Leben widerfahren ist, und wir deshalb einen Bezug zu ihr aufbauen können? Wir haben mit dieser Anknüpfung experimentiert und gesagt: Weg mit diesem ganzen Verfahren, bei dem Schauspieler einen Text aufführen, damit Leute im Zuschauerraum einen Bezug dazu herstellen können. Holen wir doch die Leute auf die Bühne, und erarbeiten wir diesen Bezug direkt mit ihnen.” 16 Bei Rimini Protokoll geht es weniger darum, eine individualistische bildende Kunst „einsamer Helden“ zu vergesellschaften, denn die Gruppe arbeitete von vornherein auf dem wenig einsamen Gebiet des Theaters. Stattdessen wird Theater hier transformiert durch ein Umstoßen seiner Prinzipien und eine Entthronung künstlerischer Autorität. An die Stelle von Berufsschauspieler*innen treten Bürger-Darsteller*innen und erkennen – darin François Hers‘ Ideal von Bürger*in nicht unähnlich – „in sich, was für zeitgenössische Künstler*innen Grundlage schöpferischen Arbeitens ist: denselben Wunsch, sich frei auszudrücken, denselben Entschluss, sich dem Normiertwerden zu widersetzen, dasselbe Bedürfnis, sich eine andere Vorstellung von sich selbst zu machen und Wege zu bahnen, wo noch keine sind.” 17

Dieser Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Widerstand gegen Normierung, verträgt sich nicht ohne Weiteres mit dem nach gemeinschaftlicher Abstimmung. Auch kehrt die Dialektik zwischen Autonomie und Heteronomie innerhalb anderer Dialektiken wieder, die Beziehungen zwischen Bedürfnissen der einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen privaten und öffentlichen Finanzierungen, Ressourcen und Steuerungssystemen verhandeln. Die Notwendigkeit, sich auf eine solche Verhandlung einzulassen, wird bei den Neuen Auftraggebern in der Entscheidung, „Politiker und Sponsoren“ einzubeziehen, sehr klar. Dass beide Gestalten aber erst in einem relativ späten Stadium auf den Plan treten, unterscheidet die Neuen Auftraggeber vom traditionellen Vorgehen bei Kunst im öffentlichen Raum, das üblicherweise die Auftragsvergabe in die Hände eines offiziellen Gremiums legt. Indem eine Gruppe Neuer Auftraggeber eben dem voran- und somit am gewöhnlichen Ablauf vorbeigeht, entscheidet sie sich für einen anderen Weg. Erinnern wir daran, dass „der Auftraggeber insofern kein Unternehmen sein kann, als die Begründung eines Dialogs und die Übernahme der damit verbundenen Verantwortung zwingend natürlichen Personen vorbehalten ist“. 18 Die Neuen Auftraggeber richten nicht nur ihre gesellschaftlichen Ziele am künstlerischen Prozess aus, sondern fassen auch das öffentliche Verfahren, bei dem Kunst im öffentlichen Raum entsteht, anders als bisher. Indem sie den Ablauf der Kunstproduktion umgestalten und insbesondere die Auswahl von Kunst für den öffentlichen Raum nicht einer Verwaltungsinstanz überlassen, werden Auftraggeber*innen wirksam für ihre Verantwortung als handlungswillige Bürger*innen innerhalb einer Zivilgesellschaft resensibilisiert. Zugleich sind auch ihre Projekte für ihre Umsetzung immer noch auf die öffentliche Hand – wie auch auf private Unterstützung – angewiesen. Ob es um Genehmigungen, städtebauliche Verfahren, Denkmalschutz, Rechte an Grund und Boden oder alternative Nutzungen geht: Neue Auftraggeber müssen die Unterstützung der Öffentlichkeit gewinnen und entsprechende Prozesse in Gang bringen, bisweilen auch als eine Art von künstlerischem Material. Wieder zeigen andere Beispiele sozial engagierter Kunst aus der Zeit um die Wende von 20. zum 21. Jahrhundert, wie eine solche systemische Organisation aussehen kann: etwa bei Stephen Willats, der sich mit einer Reihe von Themen im Sozialbereich, insbesondere aber mit sozialem Wohnbau in Großbritannien und in der EU befasst hat. „Pat Purdy and the Glue Sniffers Camp“ (1981) und „Brentford Towers“ (1985) sind exemplarisch für einen Prozess, der sich zunächst auf eine Bewohner*innenschaft und einen Kreis ihrer führenden Vertreter*innen einließ, um eine Form zu entwickeln, die den Wertvorstellungen und Bedürfnissen der Beteiligten entsprach. Das beinhaltete Erzählungen, Veranschaulichung in Bildern und alternative Landkarten, die Alltagsverhalten und Lebensentwürfe in der Nachbarschaft zum Ausdruck brachten. Willats betätigte sich auch insgeheim als Landschaftsgestalter im öffentlichen Raum, insbesondere rund um einen Skatepark bei „The Kids are in the Streets“ (1982). In der eigenen diskursiven Einrahmung seiner Arbeit, etwa in Art and Social Function von 1976, suchte er die Zusammenarbeit mit „allen Künstler*innen, die daran denken, Paradigmen einer anderen Kunst umzusetzen, die in das Gefüge der Gesellschaft eingreift“. 19 Auch hier ist das Herangehen an die Infrastruktur zugleich ästhetisch und gesellschaftlich angelegt. So trachtete Willats in den meisten seiner Projekte und Schriften unablässig danach, die traditionelle Reihenfolge in der Künstler*in-Kunstwerk-Publikum-Beziehung umzustellen. In „Existing Artist-Audience Relationships“ und anderen anschaulichen Darlegungen kritisierte er Modelle, die vom Grundsatz einer künstlerzentrierten Abfolge ausgingen, und entwarf als Alternative Flussdiagramme mit Kreisen und Pfeilen in beide Richtungen, die einen wechselseitigen Austausch vorstellten.

Ein Hauptgrund für die Benennung der Rolle von „Politiker*innen und Sponsor*innen“ ist selbstverständlich, dass die Projekte eine Finanzierung benötigen, und zwar in einem Ausmaß, das die Möglichkeiten beispielsweise einer Nachbarschaftsinitiative unabhängiger Einzelpersonen übersteigt. Ob öffentliche oder private Gelder oder auch Zuwendungen aus einer dritten Kategorie philanthropischer oder gemeinnütziger Stiftungen: Die Neuen Auftraggeber erschließen eine Mischfinanzierung für eine Praxis öffentlicher Ästhetik in verschiedenen Medien. Insofern betreiben sie eine Gratwanderung zwischen widerstreitenden Ansprüchen, die von Debatten über die Zukunft der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit begleitet ist. Ihr Wunsch, die Kunst aus dem Würgegriff des spekulativen Kunstmarktes zu befreien, erinnert an Habermas und seine Versuche, die Öffentlichkeit vor dem Kommerz zu bewahren. Indem sie andererseits die Initiative des Handelns „autonomen Einzelpersonen“ übergeben, wollen sie auch die Kehrseite der Habermas‘schen Dialektik erfassen, d.h. eine Öffentlichkeit aktivieren, die sich den Übergriffen der öffentlichen Verwaltung entzieht. 20 Zugleich ist allen neoliberalen Subjekten nach Habermas durchaus bewusst, dass es eine reine, von Markt und Staat unbeeinträchtigte Position des Handelns nicht geben kann. Die laufende Anpassung und Justierung der Ziele muss ein stetes, feinfühliges und bisweilen ambivalentes Choreografieren unterschiedlicher Ansprüche und Machtverhältnisse sein, darunter auch solcher, die nur vorgeblich, nicht wirklich den kommerziellen vom öffentlichen Sektor trennen.

Am Ende erweist sich, dass die Neuen Auftraggeber und ihre Protokolle die Parameter von Kunst und Öffentlichkeit neu definieren. Darin stimmen sie mit Kernanliegen der Sozialen Praxis überein, insbesondere was das Umkehren der Ordnung und das dialogische Vorgehen nach Grant Kester angeht. „Zwar ist es üblich, dass sich an einem Kunstwerk ein Dialog unter Betrachter*innen entzündet, doch dies geschieht gewöhnlich in Reaktion auf ein bereits fertiges Objekt. In den vorliegenden Projekten wird dagegen das Gespräch zu einem integralen Bestandteil des Werks als solchen. Dieses Gespräch wird als aktiver, schöpferischer Prozess verstanden, der uns hilft, uns auszusprechen und unsere Fantasie jenseits der Grenzen festgelegter Identitäten und offizieller Diskurse spielen zu lassen.“ 21 Ob stillschweigend oder ausdrücklich und gewollt: Neue Auftraggeber fungieren als ein Prototyp sozialer Praxis, der Debatten rund um die sozial engagierte Kunst exemplarisch vorführt und differenzierend weiterträgt. Projekte der Neuen Auftraggeber sind den sozialen und architektonischen Schöpfungen von Vertreter*innen der sozialen Praxis ähnlich und unähnlich zugleich. Die hier begonnenen Vergleiche und Gegenüberstellungen ließen sich anhand vieler weiterer Beispiele fortsetzen: Rirkrit Tiravanija in Chiang Mai, Thailand, Laurie Jo Reynolds und ihre “legislative art” im Hochsicherheitsgefängnis Tamms, Tania Brugueras Arte Útil... 22 Bei jedem einzelnen dieser Vergleichsprojekte finden wir Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Werten und der Geschichte der Neuen Auftraggeber. Tiravanijas Zugehen auf die Gesellschaft könnte immer noch als künstlerzentriert gesehen werden. Reynolds‘ und Brugueras‘ Streben nach konkreter politischer Veränderung und direkter Praxis entspricht vielleicht in mancher Hinsicht den Neuen Auftraggebern, doch wie Sören Meschede gezeigt hat, nimmt uns beider Konzentration auf einen besonders hohen gesellschaftlichen Nutzen auch die Möglichkeit, andere Arten von bürgergeleiteten Experimenten zu schätzen, die vielleicht straucheln oder sogar „scheitern“, aber ungeachtet dessen wichtige öffentliche Erinnerungen stiften oder Wirkungen und Verbindungen nach sich ziehen können. Eines ist sicher: Wie sehr die Neuen Auftraggeber auch Ausdruck einer umfassenden Bewegung oder Strömung ihrer Zeit sein mögen, so sehr sind sie andererseits Schöpfer eines katalytischen Modells. Ihre Begriffe und Protokolle definieren Rollen und klären Prozesse in einer Weise, die hinsichtlich Eigenständigkeit, Detailliertheit und Genauigkeit ihresgleichen suchen. Darüber hinaus haben die Neuen Auftraggeber Netzwerke und Bündnisse zwischen erfahrenen Mitwirkenden geknüpft und im Zuge dessen auch ihre Methoden und Regeln für die Diskussion, Erprobung und Weiterentwicklung geöffnet. Und so ist es jetzt, in diesem noch frühen 21. Jahrhundert an der Zeit, die enorme Bandbreite der Kunst der Neuen Auftraggeber zu überschauen und zu würdigen. Ihre Stärke hängt nicht davon ab, ob es sich dabei um eine proto- oder postsoziale Praxis handelt. Sie beruht auf den öffentlichen Werten, die sie prägt und abbildet, auf dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, den sie erzeugt und erhält, auf der Begeisterung und Energie, die wir allesamt als Bürgerinnen und Bürger fühlen, wenn uns klar wird, dass auch wir irgendwann Neue Auftraggeber sein könnten.

1 François Hers, Le Protocole, Les presses du réel, Paris 2002), S. 22.
2 François Hers, Letter to a Friend About the New Patrons, übersetzt von Emmelene Landon, Les presses du réel, Paris 2016.
3 Siehe auch François Hers, „Das Protokoll der Neuen Auftraggeber“, neueauftraggeber.de/de/das-protokoll-der-neuen-auftraggeber/
4 François Hers, „Ambition“, Les nouveaux commanditaires, www.nouveauxcommanditaires.eu/en/22/ambition.
5 Hers, Letter to a Friend About the New Patrons, S. 9.
6 François Hers, Jean-François Chevrier und Roman Cieslewicz, A Tale, Thames & Hudson, London und New York, 1983.
7 Nicolas Bourriaud, Esthétique relationale, Les Presses du Réel, Paris 2002.
8 Im Rahmen einer Korrespondenz mit Alexander Koch schreibt François Hers im Juli 2021: „Ich würde es für reine Erfindung halten, wenn ich als die einzige Person gälte, die die Notwendigkeit zur Erschaffung unserer Epoche erkannt hat. Doch ebendiese Fiktion kam mit den Romantikern auf, und seither ist die Gesellschaft uns so verbunden ist zu glauben, dass die innerste Notwendigkeit des Künstlers zugleich prägend für die innere Notwendigkeit von allen und jedem ist. Aber könnte das auch anders sein? Immerhin waren die Mächte der Politik und Religion seit der Französischen Revolution nicht mehr in der Lage, sich durchzusetzen, und es wurde vorstellbar, dass das Volk über seine eigene Macht verfügt.“
9 Grant Kester, Conversation Pieces: Community and Communication in Modern Art, University of California Press, Berkeley 2004.
10 A Blade of Grass, abladeofgrass.org
11 Suzanne Lacy, „Introduction“, in: Mapping the Terrain: New Genre Public Art, Bay Press, Seattle 1995, S. 22.
12 Hers, Le Protocole, S. 23.
13 Vgl. Shannon Jackson, Social Works: Performing Art, Supporting Publics, Routledge, London 2011.
14 John Roberts, Revolutionary Time and the Avant-Garde, Verso, London 2015.
15 Siehe www.temple-of-refuge.net/de/.
16 Peter Boenisch, „Other People Live: Rimini Protokoll of their ‘Theatre of Experts,’” Contemporary Theatre Review 18(1), S. 109.
17 Hers, Le Protocole, S. 22.
18 „Patrons“, Nouveaux commanditaires, www.nouveauxcommanditaires.eu/en/23/patrons.
19 Stephen Willats, Art and Social Function: Three Projects, Ellipsis, London 2000.
20 Vgl. Nancy Fraser, „Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy“, Social Text, Nr. 25/26 (1990), S. 56-80; vgl. Jackson, Social Works.
21 Grant Kester, „Conversation Pieces: The Role of Dialogue in Socially-Engaged Art“, in Theory in Contemporary Art Since 1985, hrsg. v. Zoya Kucor and Sion Leung, Blackwell, London 2005. S. 154.
22 The Land Foundation, Chiang Mai, Thailand, www.thelandfoundation.org/about; Laurie Joe Reynolds, Tamms Year Ten (2008-2013); Tania Bruguera, Arte Util, www.arte-util.org/about/colophon/.