Ein Praxisbericht
Susanne Burmester, Mediatorin, Deutschland
Susanne Burmester arbeitet seit 1993 als Kuratorin, Journalistin und Projektmanagerin auf der Insel Rügen. Seit 2017 ist sie Mediatorin der deutschen Pilotphase der Neuen Auftraggeber für die Region Mecklenburg-Vorpommern und begleitet dort aktuell drei Bürgergruppen. In Greifswald haben die Auftraggeberinnen Daniel Knorr eingeladen, ein Kunstwerk zu entwickeln, Antje Majewski erarbeitet einen Entwurf für das Dorf Wietstock und in Kasnevitz auf Rügen ist ein Auftrag in Arbeit.
Für Im Auftrag – Kunst in Beziehung haben internationale Mediator*innen über die Bedeutung des Protokolls der Neuen Auftraggeber für Ihre Arbeit nachgedacht: Das Protokoll kann prinzipiell an jedem Ort der Welt in die Praxis umgesetzt werden, da es nichts weiter tut als eine Weise zu beschreiben, in der Menschen zusammenarbeiten können. Alle Entscheidungen werden dabei lokal von unabhängigen Akteuren getroffen. Zudem ermöglicht das Protokoll nicht nur Projekte der zeitgenössischen Kunst, sondern auch wissenschaftliche Forschungsaufträge, ebenso wie Theaterproduktionen, Musik, Architektur und vieles mehr.
Doch wie universell ist das Protokoll, das in europäischen Zusammenhängen, vor dem Hintergrund einer französischen Kulturpolitik um 1989 entstanden ist, tatsächlich? Wie wird es in verschiedenen Regionen Europas, aber auch in Kamerun, Kolumbien, dem Libanon und Tunesien interpretiert und gegebenenfalls adaptiert? Wie ändern unterschiedliche historische, kulturelle und politische Hintergründe die Perspektiven einer Kunst im Bürgerauftrag und die konkrete Arbeit von Mediator*innen? Können diese empfehlen, das Protokoll auch in Gesellschaften aufzugreifen, in denen es bislang keine Rolle spielt?
Über diese Fragen haben die Mediator*innen mit Blick auf ihre eigene Praxis nachgedacht. Ihre Texte erscheinen nun als Teil dieser Reihe.
Produktive Verunsicherung. Wie das Protokoll von François Hers uns verändert
Meine erste Begegnung mit den Neuen Auftraggebern hatte ich im Herbst 2017 in der Spielkartenfabrik Stralsund, wo ich ein Projekt leitete. Dort waren Alexander Koch und Gerrit Gohlke zu Gast, um sich über eine mögliche Partnerschaft zu unterhalten. Der international agierende Galerist von KOW und der Leiter des Brandenburgischen Kunstvereins in Vorpommern? Aus der nordostdeutschen Perspektive betrachtet, war diese Begegnung nahezu surreal und vielleicht schon die erste Verschiebung der Parameter meiner Praxis, auf die viele weitere folgen sollten.
Neugierig geworden, wollte ich Auftraggeberin für ein Projekt in meiner Nachbarschaft werden. Der staatlich organisierte Abriss des Schlosses zu Putbus auf Rügen in den 1960er Jahren hatte eine Leerstelle hinterlassen und beeinflusst das politische, soziale und wirtschaftliche Leben des Ortes bis heute. Mir war keine Möglichkeit bekannt, wie man eine Fragestellung von solch öffentlicher Dringlichkeit, die viele Bürger*innen auf unterschiedliche Weise betrifft, behandeln könnte, ohne einfach nur über einen Wiederaufbau zu sprechen. Doch mit den Neuen Auftraggebern war ihr „Protokoll“, verfasst von dem Künstler François Hers, nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen. Ich war sofort überzeugt, dass ein Aushandlungsprozess zwischen Bürger*innen, unterstützt durch eine*n Mediator*in und die Expertise erfahrener Künstler*innen, der richtige Weg sein könnte.
Nach zwei intensiven Gesprächen über das deutschlandweite Modellprojekt wurde mir die Tätigkeit als Mediatorin angeboten und ich erlebte eine produktive Verunsicherung meiner bestehenden Situation. Die kleine Welt der defensiven Ausstellungspolitik war unerwartet groß geworden. Plötzlich war die Anbindung an ein internationales Netzwerk und die Zusammenarbeit mit namhaften Künstler*innen möglich. Gesellschaftlich relevante Fragestellungen sollten nicht mehr nur in den Metropolen diskutiert werden, sondern ebenso hier bei uns: in der „Provinz“, im Dorf oder im ostdeutschen vermeintlichen „Problemviertel“. Mit dem Protokoll kann jeder ein Akteur in der Transformation der Gesellschaft sein und mitentscheiden, wie die Zukunft aussehen soll.
Alle Projekte, die ich seit 2019 als Mediatorin begleite, haben gezeigt, welche Kraft der zivilgesellschaftlichen Kommunikation sich auf der Grundlage des Modells der Neuen Auftraggeber entfalten kann. Dabei ist das Protokoll, das von François Hers 1990 als eigenes Kunstwerk entworfen wurde, eine Art Regelwerk ohne Regeln. Wie andere gute Kunstwerke auch bleibt es ambivalent und ist doch nicht beliebig. Es ist zugleich streng und unendlich großzügig. Es eröffnet ein Spielfeld, auf dem die Beteiligten agieren können. Und es weist Rollen zu, die osmotisch miteinander verbunden sind und doch individuelle Verantwortung übertragen. Worum es in dem „Spiel“ geht, legen alle durch das gemeinsame Handeln fest. Diese Qualität macht das Protokoll universell.
Keine Rolle im Protokoll der Neuen Auftraggeber ist privilegiert, jeder Beitrag ist gleichermaßen bedeutsam. Ich habe den Unwillen beobachtet, zum wiederholten Male darüber zu sprechen, was das Dorf eigentlich ausmacht, und wie darauf dann aber stets eine erstaunliche neue Erkenntnis folgte. Oft machte erst die diffuse Situation, in der „Macher“ lustlos wurden, andere Stimmen hörbar, die den Denkprozess zum Auftrag maßgeblich vorangebracht haben. Große Krisen und die Unzufriedenheit der Akteure sind immer wieder Wendepunkte, an denen die Verantwortung für das Projekt wächst.
In seiner Offenheit ermöglicht das Protokoll allen Beteiligten die Möglichkeit des „künstlerischen Denkens“. Weil Denkverbote aufgehoben sind, treten Bedürfnisse und Ressourcen zutage, die vorher unsichtbar waren. Lokales Wissen und individuelle Fähigkeiten werden produktiv, vorher stumme Akteure werden gehört. Manchmal sind Umwege nötig, um Muster und Erwartungshaltungen zu durchbrechen. Wenn sich die Mediatorin nicht an gängige Moderationsformate klammert, dafür lieber mal mit in die Kirche geht oder an einer Radtour teilnimmt, ist das förderlich für die Prozesse. Doch am Ende besteht ihre Rolle vor allem darin, die horizontalen Diskurse am Laufen zu halten.
Ohne das Kunstwerk, das im Ergebnis entstehen soll, hätten die Prozesse keinen Fokus. Doch auf dem Weg dahin passiert viel mehr, als ein Projektmanagement steuern könnte. Das Protokoll ermöglicht einen beispielhaften demokratischen Prozess. Alle Beteiligten verlassen ihre gewohnten Standorte, um sich neu zu verorten – sich vielleicht sogar als Gemeinschaft neu zu erfinden. Im Idealfall erleben sie, dass nicht die Harmonie, sondern der Dissens die produktivsten Ergebnisse hervorbringt. Diese Kraft entfaltet das Protokoll in unterschiedlichen Projekten und mit diversen Bürgergruppen, sei es im von sozialer Spaltung geprägten Plattenbauviertel, im vernachlässigten ländlichen Raum oder in der privilegierten Gemeinde.
Auf die große Freiheit, die Bürgergruppen in der Auftragsentwicklung besitzen, folgt die große Freiheit der eingeladenen Künstler*innen, die den Auftrag annehmen. In ihrem Entwurf verdichtet sich der gesamte Prozess und wird öffentlich sichtbar. Die Akteure werden zu einer Gemeinschaft der Wissenden, sie sind die Experten ihres eigenen Auftrags. Doch dabei bleibt es nicht. Denn das Kunstprojekt entfaltet seine Kraft in der ambivalenten Struktur, die nie nur eine Illustration des Auftrags ist. Der künstlerische „Mehrwert“ befreit die von der Auftraggebergruppe entwickelte Frage und gibt sie an die Gesellschaft weiter. „Kunstvermittler“ sind in diesem Fall die Bürger*innen selbst, die Auftraggeber*innen und alle, für die das Werk stellvertretend entwickelt wurde.