Ein Praxisbericht

Atelier des Jours à Venir, gemeinnützige Kooperative, Frankreich

Die Autor*innen dieses Textes Claire Ribrault, Maria Pothier und Livio Riboli-Sasco arbeiten im Atelier des Jours à Venir als Trainer*innen, Mediator*innen und Forschende. Atelier des Jours à Venir ist eine gemeinnützige Kooperative aus Frankreich, die sich zum Ziel gesetzt hat, sowohl Forschung, als auch lokale Bürgergemeinschaften durch den Austausch von Wissenspraktiken zu stärken.

Es entwickelt Schulungen für Studierende und lebenslanges Lernen für akademische Forscher*innen, um sie zu einer aktiven, kreativen, reflexiven und verantwortungsvollen Wissenschaftspraxis zu ermutigen. Dabei fördert es die Vermittlung von wissenschaftlichen Bürgerprojekten mit starkem sozialem Engagement, bei denen das Teilen der Praxis und der Werte von Forschungsgemeinschaften Bürger*innen insbesondere in sozial benachteiligten Kontexten stärkt.

Für Im Auftrag – Kunst in Beziehung haben internationale Mediator*innen über die Bedeutung des Protokolls der Neuen Auftraggeber für Ihre Arbeit nachgedacht: Das Protokoll kann prinzipiell an jedem Ort der Welt in die Praxis umgesetzt werden, da es nichts weiter tut als eine Weise zu beschreiben, in der Menschen zusammenarbeiten können. Alle Entscheidungen werden dabei lokal von unabhängigen Akteuren getroffen. Zudem ermöglicht das Protokoll nicht nur Projekte der zeitgenössischen Kunst, sondern auch wissenschaftliche Forschungsaufträge, ebenso wie Theaterproduktionen, Musik, Architektur und vieles mehr.

Doch wie universell ist das Protokoll, das in europäischen Zusammenhängen, vor dem Hintergrund einer französischen Kulturpolitik um 1989 entstanden ist, tatsächlich? Wie wird es in verschiedenen Regionen Europas, aber auch in Kamerun, Kolumbien, dem Libanon und Tunesien interpretiert und gegebenenfalls adaptiert? Wie ändern unterschiedliche historische, kulturelle und politische Hintergründe die Perspektiven einer Kunst im Bürgerauftrag und die konkrete Arbeit von Mediator*innen? Können diese empfehlen, das Protokoll auch in Gesellschaften aufzugreifen, in denen es bislang keine Rolle spielt?

Über diese Fragen haben die Mediator*innen mit Blick auf ihre eigene Praxis nachgedacht. Ihre Texte erscheinen nun als Teil dieser Reihe.

Wissenschaftliche Forschung als Auftragsarbeit erfordert eine radikale Veränderung der akademischen Institutionen

Nach zehn Jahren begleiteter wissenschaftlicher Auftragsarbeit beginnt die begleitete Transformation der akademischen Institutione

Vor fast zehn Jahren haben Bruno Latour und François Hers den Mitgliedern des Atelier des Jours à Venir, Livio Riboli-Sasco und Claire Ribrault, vorgeschlagen, das Protokoll der Neuen Auftraggeber probeweise im Bereich der wissenschaftlichen Forschung umzusetzen: Wie könnte die Auftragserteilung für wissenschaftliche Forschung aussehen?

Ein Versuch mit einer Schülergruppe in einem Vorort von Barcelona und mit zwei in Nijmegen in den Niederlanden tätigen französischen Forscher*innen erwies sich als vielversprechend: Ein Mediator sorgte dafür, dass die offenen Fragen der Schüler*innen von den Forscher*innen aufgegriffen wurden. Daraufhin wurde ein abgewandeltes, speziell an die Wissenschaft angepasstes Protokoll verfasst, das seither in etwa einem Dutzend Projekten in Frankreich, Spanien und Portugal in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen der Wissenschaft zum Einsatz gekommen ist: von der Wellenphysik über die Soziologie landwirtschaftlicher Praktiken und die Erziehungswissenschaften bis hin zur baskischen Sprachwissenschaft.

Die Aufträge werden oft von interdisziplinären Forschergruppen übernommen. Während Kunstschaffende Auftragsarbeiten eher allein erledigen, verfolgen Wissenschaftler*innen per se einen gemeinschaftlichen Ansatz und leisten originäre Forschungsarbeit. Die Wissensproduktion liegt dabei in ihrer Verantwortung und orientiert sich an den herkömmlichen Qualitätsanforderungen der beteiligten Disziplinen. Die Auftraggeber*innen sind durch einen Dialog und ihr eigenes Mitwirken in die verschiedenen Phasen der Wissensproduktion eingebunden. Mediator*innen begleiten den Dialog über die gesamte Dauer des Projekts und sorgen dafür, dass er im Alltag der Auftraggeber*innen und im Hochschulbetrieb fest verankert wird.

Auftragserteilung eröffnet vielfältige Sichtweisen und verbessert die Wissensqualität

Wissenschaftliches Wissen wird oft als neutral und objektiv wahrgenommen – eine Sichtweise, die von der Wissenschaftsforschung kritisiert wird, da sie die Machtverhältnisse verschleiert, die der Produktion wissenschaftlichen Wissens zugrunde liegen. Angesichts der Subjektivität bei der Produktion wissenschaftlichen Wissens lautet eine auf feministischen Erkenntnistheorien beruhende Forderung, den situativen Charakter (z. B. sozial oder historisch) jedes Forschungsvorhabens zu berücksichtigen. Durch die Einbindung vielfältiger Standpunkte in die Forschung ließe sich die Vertrauenswürdigkeit des produzierten Wissens erhöhen.

Es ist vor allem den feministischen Erkenntnistheorien zu verdanken, einen Weg gefunden zu haben, der es ermöglicht, die Wissenschaft dennoch nicht abzulehnen, sobald derartige Machtprozesse aufgedeckt werden. Die Vertrauenswürdigkeit wissenschaftlichen Wissens lässt sich nicht wiederherstellen, indem man sie in der vermeintlichen Objektivität sucht, die weiterhin den Status und die Interessen derjenigen leugnen würde, die dieses Wissen produzieren. Vielmehr sollte man sich der Art und Weise bewusst werden, wie Wissen verortet und produziert wird, und akzeptieren, dass es immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden muss, insbesondere von all denen, die dieses Wissen betrifft. In den Neue-Auftraggeber-Projekten ermöglicht es die Mediation, die von diesem Wissen unmittelbar betroffenen Auftraggeber*innen über ihren sozialen, kulturellen und politischen Status, ihre Verwurzelung in einer bestimmten Gegend und ihre Berufe in die Wissensproduktion einzubinden. Ihr Status unterscheidet sich oft stark von dem der Forschenden, die eine ganz andere soziokulturelle Prägung aufweisen.

Das Forschungsprojekt ist die Umsetzung des Auftrags

Die Auftraggeber*innen wünschen nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, die, wenn überhaupt, erst Jahre später vorliegen. Sie verlangen von den Forschenden, das in den Blick zu nehmen, was ihnen wichtig ist, was für sie zählt. Sie möchten mitwirken. Sie erwarten eine bestimmte Herangehensweise an die Welt und das Wissen, gemeinschaftliches Denken und Handeln. Sie entwickeln diese Positionen im Austausch mit den Forschenden, im Frageprozess. Sie bringen Erfahrungen, Unsicherheit, lokales Wissen und Handeln zum Ausdruck. So bewegt sich Wissenschaft weg von formalem, kaltem, akademischem Wissen.

Der Ansatz von Wissenschaft im Bürgerauftrag als Instrument zur institutionellen Anerkennung von Bürgerstimmen in der Forschung

Letztlich stellen die bürgerschaftlichen Forschungsaufträge die Institution der Wissenschaft infrage. Die Auftraggeber*innen und Mediator*innen arbeiten mit wissenschaftlichen Institutionen zusammen. Letztere finanzieren die Arbeit der Forscher*innen und integrieren deren Beiträge in den gesamten Denkprozess der Forschungsgemeinschaften. Die Institution sorgt zudem für die Einhaltung ethischer Regeln und schafft somit die Voraussetzungen für eine möglichst vertrauenswürdige Wissensproduktion.

Dennoch bestehen weiterhin zahlreiche Hemmnisse, vor allem innerhalb der Institutionen. Dazu gehört etwa die Frustration der Forscher*innen angesichts der Überlastung durch Publikationsdruck, Studierendenbetreuung und Lehrverpflichtungen. Zudem sehen sich Wissenschaftler*innen widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt: einerseits dem Ansporn zur „Exzellenz“, ohne genau zu wissen, was das beinhaltet, zum anderen der Forderung, die Anliegen der Gesellschaft zu berücksichtigen. Die Teilnahme an den partizipativen Projekten der Neuen Auftraggeber erfordert jedoch Zeit, Aufmerksamkeit und die Reise an die Wohnorte der Auftraggeber*innen. Schließlich lernt man Menschen nicht „online“ oder auf streng durchgetakteten Versammlungen kennen.

Auf der Grundlage der bisher durchgeführten bürgerschaftlich beauftragten Forschungsprojekte hat das Atelier des Jours à Venir Ende 2020 eine Zusammenarbeit mit der Universität Straßburg begonnen, um diese darin zu unterstützen, Voraussetzungen für Einbindung und Entwicklung der Bürgerbeteiligung in der Forschung zu schaffen. Dabei geht es um die Bereitstellung von Personal und Strukturen, damit Forscher*innen, die derartige Aufträge annehmen oder ihre Forschung generell in engem Austausch mit den betroffenen Bürger*innen entwickeln möchten, dies unter bestmöglichen Bedingungen tun können und für diese ungewöhnliche Arbeit entsprechend anerkannt werden. Angestrebt wird ebenfalls, die Universität so auszustatten, dass es ihr mithilfe der Mediator*innen gelingt, Formen des Austauschs und der Begegnung mit den Bewohner*innen an ihrem elsässischen Standort, auch jenseits der Grenze, zu entwickeln.

Die Einfachheit der Prinzipien des Neue-Auftraggeber-Protokolls, die Eingängigkeit ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen und die durch die Mediator*innen gewährleisteten hohen Standards bei der Begleitung der Prozesse haben es ermöglicht, sie mit ganz unterschiedlichen Auftraggeber*innen und einem großen Spektrum an Forschungsdisziplinen nach den ethischen Regeln der Wissensproduktion umzusetzen. Das Protokoll der Neuen Auftraggeber ist nun Wegbereiter für eine institutionelle Anerkennung des Wertes der Bürgerbeteiligung in der Forschung und der Notwendigkeit, die Methoden der Wissensproduktion neu zu definieren.

(Übersetzung: Anja Schulte)